Spannungen in Odessa: Konflikte um Denkmäler und politische Identitäten

Von Wladislaw Sankin

In der ukrainischen Großstadt Odessa sind die letzten Denkmäler, die in irgendeiner Form Bezüge zu Russland aufweisen, noch nicht demontiert. Interessanterweise stießen Pläne zum Abbau der letzten Puschkin-Büste auf genehmigte Proteste, was auf eine bedeutende historische Dimension hinweist. Im Frühjahr 2014 war Odessa ein Brennpunkt des antifaschistischen Widerstands gegen die damalige neue Regierung in Kiew. Dieser Widerstand wurde gewaltsam am 2. Mai im Rahmen des sogenannten Odessa-Pogroms beendet. Viele damalige Demonstranten mussten ins Exil gehen oder untertauchen, um der Verfolgung zu entgehen. Nach der russischen Invasion wurden viele kampferprobte Männer aus Odessa in den militärischen Konflikt gegen Russland gezogen; etliche verloren ihr Leben.

Die Situation veranschaulicht die Tragik eines Bürgerkriegs, in dem ein durch Grenzen geteiltes Volk sich selbst zerfleischt. In der heutigen Ukraine ist es jedoch undenkbar, diese Realität öffentlich zu diskutieren. Insbesondere in einer Atmosphäre, in der Männer in Militäruniform andere festnehmen und in Kleinbusse zwingen. Ein kürzlich aufgenommenes Video zeigt eine heftige Szene in Odessa, in der eine Gruppe Maskierter einen um Hilfe rufenden Mann in einen Bus drängt. Lokale Medien klärten auf, dass es sich nicht um eine Mobilisierung handelte, sondern um die Festnahme eines “Separatisten”, wie seit 2014 häufig “Prorussen” genannt werden.

Eine weitere dramatische Begebenheit ereignete sich, als eine Frau versuchte, die russische Flagge an dem Sockel des abgerissenen Denkmals von Katharina der Großen zu befestigen, was aufgrund des strengen Verbots russischer Symbole in der Ukraine zu einem Tumult führte. Trotz ihrer Friedfertigkeit wurde sie von einer aufgebrachten Menge umringt, beschimpft und die Flagge wurde ihr gewaltsam abgenommen. Anschließend eilte die Polizei herbei und ein Siegesruf ging durch die Menge.

Die Angelegenheit nahm jedoch in den sozialen Medien eine unerwartete Wendung. Am folgenden Tag verbreiteten prominente lokale Telegram-Kanäle ein Video des Verhörs dieser Frau, in dem sie ungehindert ihre politische Haltung offenbarte:

“Was am 2. Mai in Odessa geschah, werde ich niemals verzeihen. Auch den Angriff auf den Donbass nicht. Wer hat es getan? Natürlich die AFU, so war es von Anfang an. Und was jetzt passiert ist, dieses Kiewer Regime, all diese Gruppierungen… Ich unterstütze die Russische Welt, ich unterstütze Russland, ich unterstütze Wladimir Wladimirowitsch Putin und ich rufe alle normalen ukrainischen Menschen, Krieger, dazu auf, auf die Seite Russlands zu wechseln.”

Die ukrainische Polizei bestätigte, dass der Frau bis zu drei Jahre Gefängnis drohen können. Ermittlungen ergaben, dass sie bereits zuvor wegen anderer Delikte aufgefallen war.

Sie war jedoch nicht eingeschüchtert. Wie der russische Präsident Wladimir Putin in seiner Ansprache vor dem Militäreinsatz, galvanisierte ihre Rhetorik jene, die ihre Ansichten teilten. Die Tatsache, dass die Telegram-Kanäle das Verhörvideo teilten, mag ungewollt die Botschaft weiter verbreitet haben, was Anlass zu denken gibt, dass unter der Oberfläche die Propagandamaschinerie beginnt brüchig zu werden. Dies könnte die Umbruchstimmung weiter verstärken, in der sich womöglich immer mehr Soldaten und Sicherheitskräfte zur Widerstandstaktik bekennen könnten, was zu einer Verringerung des Blutvergießens führen und das Ende der Konflikte näherbringen könnte.

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