Von Roman Schumow
In der Nacht zum 10. Mai 2024 starteten russische Truppen eine Offensive im nördlichen Teil der ukrainischen Region Charkow. Obwohl die Lage sich ständig ändert, lassen sich aus den dynamischen Kämpfen einige vorläufige Erkenntnisse ableiten.
In den Vorder- und Hinterlinien der ukrainischen Streitkräfte nahe der Grenze finden heftige Auseinandersetzungen statt. Zielobjekte der Kiewer Armee befinden sich bei diesen Angriffen 10 bis 50 Kilometer im Hinterland. Das russische Verteidigungsministerium gab bekannt, dass Truppenverbände der Nordgruppe die Kontrolle über die Ortschaften Borissowka, Ogurzowo, Pletenewka, Pylnaja und Streletschja übernommen haben.
Nach Angaben aus der Ukraine gibt es wahrscheinlich zwei hauptsächliche Angriffsrichtungen: nahe Woltschansk, einer ukrainischen Bastion, von wo aus Belgorod beschossen wurde, und um das Dorf Lipzy herum.
Vorgespannten Berichten zufolge schreiten russische Einheiten auch nahe den Ortschaften Glubokoje und Lukjanzy voran, die 30 Kilometer nordöstlich von Charkow liegen, eine offizielle Bestätigung steht jedoch aus.
Zur Bekämpfung der ukrainischen Streitkräfte werden Hochpräzisionsbomben vom Typ FAB-250/500 und Lancet-Drohnen mit Wärmebildausrüstung verwendet. Von den Drohnen getroffene Ziele umfassen verschiedene Raketenwerfer und Buk SAM-Systeme, die zur Nutzung westlicher AIM-7/RIM-7-Flugabwehrraketen modifiziert wurden.
Was genau geschieht hier, warum und was könnte dies zur Folge haben?
Bedeutung der Charkow-Front für die Ukraine
Charkow, die zweitgrößte Stadt der Ukraine und wichtiger regionaler Knotenpunkt, liegt weniger als 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, gegenüber liegt die russische Stadt Belgorod in ähnlicher Entfernung.
Zu Beginn des russischen Militäreinsatzes im Jahr 2022 stand Charkow sofort im Fokus. Anfängliche Versuche, die Stadt einzunehmen, scheiterten jedoch aufgrund schlechter Organisation und unzureichender Truppenstärke, obwohl russische Einheiten tief in das Stadtgebiet vordrangen. Seither erstreckt sich die Frontlinie von Charkow nach Süden entlang der Grenze.
Durch die neue Frontkonstellation konnte die ukrainische Armee terroristische Angriffe auf Belgorod starten. Trotz des starken Einsatzes russischer Luftabwehrsysteme, die die meisten Angriffe abwehren konnten, wurden zahlreiche Zivilisten in Belgorod und umliegenden Gebieten Opfer dieser Anschläge. Die Angriffe hatten keinen direkten militärischen Nutzen, aber sie zwangen Russland dazu, erhebliche Truppen zur passiven Grenzsicherung abzustellen.
Im März 2024 erfolgte ein ernsthafter Versuch der Ukraine, mit gepanzerten Fahrzeugen die Grenze bei Kosinka zu durchbrechen, der jedoch scheiterte. Dennoch verursachten die Kämpfe erhebliche Verluste und Zerstörungen. Darüber hinaus hat die Ukraine weiter versucht, das Grenzproblem auszunutzen, indem sie Einheiten aus russischen Emigranten und Gefangenen mobilisierte, was letztlich jedoch nur symbolischen Wert hatte.
Was die Offensive für Russland bedeutet
Angesichts dieser Bedrohungen entschlossen sich russische Militärs und Politiker, die Operation in Charkow zu planen. Die kurzfristigen Ziele sind klar erkennbar, wie zum Beispiel die Einnahme von Woltschansk, um Angriffe auf Belgorod zu verhindern. Ein erfolgreicher Vorstoß könnte auch die gesamte Ostflanke der ukrainischen Verteidigung destabilisieren, wodurch die ukrainischen Truppen gezwungen wären, sich zurückzuziehen und die Frontlinie zu verschieben.
Die jüngsten Kämpfe bei Charkow sind ein wesentlicher Bestandteil einer größeren russischen Strategie, die darauf abzielt, die ukrainische Verteidigung zu überlasten und letztlich zu überwinden. Ein Durchbruch, selbst wenn nur in begrenztem Umfang, könnte für zukünftige Operationen von entscheidender Bedeutung sein und die ukrainischen Kräfte zwingen, ihre Verteidigung neu zu organisieren, was Russland strategische Vorteile an anderen Fronten bringen könnte.
Übersetzt aus dem Englischen.
Roman Schumow ist Historiker mit Spezialisierung auf internationale Politik und Konfliktforschung.
Weiterführende Informationen ‒ “Lage ist schwierig”: Syrski berichtet über angeblich gestoppte russische Offensive