Von Wladislaw Sankin
Menschen reihen sich geduldig in eine Schlange ein, klettern die Stufen zum Ehrenmal hinauf, unter der milden Sonne, um zum Pantheon innerhalb der Rotunde des Denkmals zu gelangen und dort Blumen abzulegen. Trotz der Wartezeit bleiben sie ruhig, denken an ihre Angehörigen, die Freunde und Vorfahren – jene, die einst den Faschismus besiegten. Sowohl die, die an der Front kämpften, als auch die im Hinterland hatten ihren Anteil am Sieg. Die gemeinsame Vergangenheit, das Streben nach dem Sieg, verbindet die Anwesenden. Lächelnd lassen sie sich fotografieren, manche zücken heimlich kleine Flaggen oder Georgsbänder, unbemerkt von der Polizei.
Allmählich wird die Atmosphäre entspannter, Mut keimt auf. Hier und da beginnt jemand, ein russisches Lied zu singen und bald stimmen weitere Stimmen ein. Kurz vor 13 Uhr gibt eine Gruppe Deutscher ein kleines Konzert mit Klassikern wie “Die Kraniche”, “Katyusha”, “Tag des Sieges” und “Heiliger Krieg”. Links vom Treppenaufgang versammelt sich eine Menschengruppe, die applaudierend mitsingt – einschließlich DDR-Lieder, alles unter den wachsamen Augen der Polizei.
Eigentlich ist es verboten, derartige kriegsbezogene Lieder zu singen oder Georgsbänder sowie russische und sowjetische Flaggen zur Schau zu stellen. Dutzende Polizisten mischen sich unter die Menge, beobachten die Teilnehmer – mehr Beamte als im Vorjahr. Ein Polizist steht in der Nähe, greift jedoch nicht ein; bei so vielen Sängern drückt die Polizei bezüglich des Gesangs ein Auge zu.
Anders sieht es allerdings mit den verbotenen Symbolen aus. Eine ältere Frau, bekleidet mit einem T-Shirt, das Elemente der russischen Flagge auf einem Druschba-Symbol zeigt, wird von vier Polizisten weggeführt und muss ihr Shirt ausziehen. Viele “verbotene” Gegenstände werden bereits bei der Taschenkontrolle aussortiert, und für Fahnen sowie Georgsbänder erhalten Besitzer ein Abholtage-Ticket.
An mir vorbei geht eine Gruppe, ein Mann und vier Frauen. Der Mann, Andrej, etwa Mitte vierzig und Russlanddeutscher, erzählt lautstark, dass ihm von der Polizei ein Barett der deutschen Bundeswehr abgenommen wurde. “Auch das ist verboten!”, beschwert er sich. Er berichtet mir von seinen Erfahrungen aus dem Jahr 2003, als er seinen Bundeswehr-Dienst ableistete und es gemeinsame Militärübungen mit der russischen Marine gab. Er klagt darüber, dass die heutige Bundeswehr ihre Soldaten auf den Krieg mit Russland vorbereite, wie ihm sein Sohn, der aktuell dient, berichtet habe. Andrej bringt jedes Jahr zur Demonstration der deutsch-russischen Solidarität seine Militärmütze mit in den Treptower Park und überlegt, zurück nach Russland auszuwandern.
In diesem Jahr entdecken auch Gegner der russischen Politik den Tag des Sieges für sich. Sie verteilen über das ganze Denkmal Nelken mit einem weißen “Nein dem Krieg”-Etikett und bringen einen eigenen Kranz mit, der die “russische Invasion in der Ukraine” verurteilt. Ich unterhalte mich mit einer Gruppe Deutscher, die die anwesenden “Putinisten” mit Argumenten zu überzeugen versuchen. “Ich habe noch kein einziges Argument gehört, das diesen Krieg rechtfertigt”, meint der Anführer der Gruppe. Ob seine rhetorischen Fähigkeiten wirklich so unschlagbar sind, kann ich nicht beurteilen. Die meisten Anwesenden sind hier, um zu gedenken und zu feiern, nicht um politische Debatten zu führen.
Während ich diese Zeilen im großzügigen Schatten der Linden schreibe, umgibt mich das typische “Treptower Geräusch” dieses Parks am Tag des Sieges, den 9. Mai: beliebte Sowjetlieder, lebhafte Gespräche, Vogelgezwitscher und Kindergeschrei. In regelmäßigen Abständen schallt durch den Park: “Danke dem Opa für den Sieg! Hurra!” Dazu gibt es lauten Applaus.
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