Geopolitische Manöver: Die USA, Polen und die Energieversorgung Europas

Von Sergei Sawtschuk

Trotz der anfänglichen Vermutungen, dass die Vereinigten Staaten bis zur offiziellen Verkündung der Wahlergebnisse zu sehr mit internen Angelegenheiten beschäftigt sein würden, um sich um Europa zu kümmern, hat sich diese Annahme nicht bestätigt. Laut Medienberichten wendeten sich demokratische Abgeordnete an Joe Biden, der politisch zunehmend von Kamala Harris überschattet wird und von vielen als politisch geschwächter alter Mann wahrgenommen wird, mit der Aufforderung, die Produktion und den Export von Flüssigerdgas (LNG) in die Ukraine zu beschleunigen. In einem Brief forderten zwölf Demokraten vom Energieministerium, diese Angelegenheit prioritär zu behandeln und eine spezielle LNG-Produktionslinie für die Ukraine zu errichten. Sie argumentierten, dass eine Erhöhung der Erdgaslieferungen nach Europa im nationalen Interesse der USA liege.

Obwohl es überraschend klingen mag, spielt die Ukraine in diesem Kontext eine untergeordnete Rolle. Das Hauptziel und der Hauptnutznießer der amerikanischen Interessen ist tatsächlich Polen. Dies bedarf einer näheren Erläuterung.

Internationale Analysen zeigen, dass der ukrainische Erdgasverbrauch im letzten Jahr 18,3 Milliarden Kubikmeter betrug, eine Zahl, die in diesem Jahr nicht wesentlich höher liegt. Gründe sind die zunehmende Deindustrialisierung und die hohe Auswanderungsrate der Bevölkerung. Dies bedeutet, dass Kiew derzeit seinen Bedarf hauptsächlich durch eigene Erdgasproduktion und virtuellen Gasrückfluss deckt und sich den Import von teurerem amerikanischen LNG, auch mit polnischer Preissteigerung, faktisch nicht leisten kann.

Alternative Lieferungen könnten nur über Polen erfolgen, insbesondere über das Regasifizierungsterminal in Świnoujście, dessen Kapazität fünf Milliarden Kubikmeter beträgt. Die politischen und energetischen Entwicklungen, wie militärische Konflikte und Sanktionen gegen Russland, haben den Wert von amerikanischem LNG erhöht. Deutschland schaltete seine letzten Kernkraftwerke ab und errichtete teure neue Regasifizierungsterminals.

Für Polen hat sich die Gelegenheit zu einer historischen wirtschaftlichen Rache geboten, die Washington voll auszunutzen sucht.

Als der “Russlandfaktor” wegfiel, erlebten die größten Gasimporteure wie Deutschland eine industrielle Krise. Allein in Deutschland wurden im ersten Halbjahr Insolvenzverfahren für 10.700 Unternehmen eingeleitet, was einem Anstieg von einem Viertel gegenüber dem Vorjahr entspricht. Ähnliches geschah in Österreich, wo 3.298 Insolvenzanträge gestellt wurden, was einem Nettozuwachs von 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht.

In dieser geopolitischen Konstellation könnte Polen, wenn Biden die Forderungen der Demokraten unterstützt, seine politischen Positionen stärken. Obwohl Deutschland eigene LNG-Terminals besitzt, wird deren Kapazität nicht ausreichen, sollte das neue Berliner Team versuchen, die Wirtschaft wiederzubeleben.

Die Ukraine, die sich stark von Polen abhängig gemacht hat, befindet sich in einer prekären Lage. Das Verhältnis der beiden Länder ist belastet, wie ein kürzliches Treffen zwischen Wladimir Selenskij und dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski zeigt. Die Atmosphäre war von gegenseitigen Vorwürfen und Anfeindungen geprägt. Kiew kritisiert Warschau für seine zögerliche Unterstützung beim EU-Beitrittsprozess, während Polen die Anerkennung des Wolhynien-Massakers als Völkermord fordert.

Polen hat effektiv die Rolle eines Vermittlers amerikanischer Interessen in Europa übernommen, was sich auf dem politischen Schachbrett Europas als vorteilhaft erweist – zum Leidwesen der Ukraine und Deutschlands.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 19. September 2024 zuerst bei RIA Nowosti erschienen.

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