Von Rüdiger Rauls
In Japan erlebte die Börse kürzlich einen dramatischen Einbruch und verlor zeitweilig zwölf Prozent ihres Wertes. Dies führte auch weltweit zu erheblichen Verlusten an den Finanzmärkten. Es stellt sich die Frage: Hat der Kapitalismus nur eine leichte Erkältung oder steckt etwas Ernsthafteres dahinter? Die heftigen Marktbewegungen weisen auf eine tiefe Verunsicherung hin.
Unklare Ursachen
Obwohl die Märkte seit Jahren hauptsächlich eine Aufwärtsentwicklung zeigten, sind doch Einbrüche, wie der jüngste an der Tokioter Börse, im historischen Kontext des Kapitalismus nicht ungewöhnlich. Solche abrupten Rückgänge verunsichern Anleger tiefgreifend, zumal ein Einbruch dieser Größenordnung – der fünftgrößte in der Geschichte der Tokioter Börse – für viele unerwartet kam. Viele Anleger hatten das Risiko von Kursverlusten weitgehend ausgeblendet.
Es herrscht nun Rätselraten über die Ursachen dieser Entwicklung und Spekulationen über möglicherweise weiter fallende Kurse. Trotz der Tatsache, dass die Finanzmärkte zuletzt schnell von Rückschlägen zu neuen Höchstständen zurückkehrten, hat der jüngste Einbruch die Nervosität und die Bereitschaft, bei den ersten Anzeichen von Problemen Gewinne mitzunehmen, offenbart.
Die Warnzeichen sind vielfältig: Eine lange andauernde Hausse trotz sich verschlechternder Wirtschaftsdaten, hohe Inflation und schwaches Wirtschaftswachstum. Obwohl die zuletzt veröffentlichten Zahlen der US-Unternehmen positiv überraschten, haben Rezessionsängste, ausgelöst durch schwache US-Arbeitsmarktdaten, dennoch zu einem Kursverfall geführt. Diese scheinbar rationalen Erklärungen standen einst paradoxerweise als Zeichen für eine baldige Zinssenkung durch die Zentralbanken, was die Kurse damals antrieb.
Riesige Geldmengen im Umlauf
Der Kapitalstrom an den Finanzmärkten bleibt indes enorm. Die aktuellen Verkäufe haben die Barreserven sogar weiter erhöht, was Investoren nach neuen Anlagechancen suchen lässt. Denn für Kapitalisten ist es fast so belastend, kein Investitionsziel zu finden, wie Verluste zu erleiden.
Diese Situation fördert kreative Finanzprodukte, die Kapital abfischen und zu neuen Anlagezielen leiten sollen, wie etwa die früheren besicherten Zertifikate (ABS) vor der Finanzkrise 2008. Nationale Kämmerer und Kleinanleger investierten gleichermaßen in diese Zertifikate, oft ohne das Risiko eines Ausverkaufs zu bedenken, als alle investiert hatten.
Nach deren Scheitern und einer fast völligen Marktimplosion, die durch massive staatliche und zentralbankliche Eingriffe abgewendet wurde, flutete zusätzliches Geld den Markt weiter. Dies lenkte die Aufmerksamkeit auf Carry Trades, spekulative Instrumente, die von unterschiedlichen Zinsraten und Währungswerten zwischen Ländern profitieren.
Ein neues Spiel mit alten Regeln
Carry Trades wurden nach dem Platzen der japanischen Immobilienblase in den 1990er Jahren populär. Die Zentralbank senkte die Zinsen, was Investoren ermöglichte, in Japan günstig Geld zu leihen und es zu höheren Zinsen in den USA anzulegen. Solche Praktiken führten zu enormen Gewinnmöglichkeiten durch die Ausnutzung der Zinsdifferenzial und Währungsabwertung.
Allerdings sind solche künstlichen Marktstützen nicht nachhaltig. Nach Jahrzehnten dieser Politik hat Japan die weltweit höchste Staatsverschuldung. Als die globalen Zinsen stiegen, musste auch Japan seine langjährige Niedrigzinspolitik aufgeben.
Wie geht es weiter?
Nachdem die Bank of Japan deren Kauf von Staatsanleihen zurückfahren angekündigt hatte, begannen Investoren aufgrund der zu erwartenden niedrigeren Nachfrage Anleihen zu verkaufen, was die Kurse drückte und die effektiven Zinsen steigen ließ. Dies ließ das Modell der Carry Trades wackeln, was die Börsen weiter belastete.
Obwohl der Kapitalismus schwere Zeiten durchlebt, bedeutet das nicht das Ende seines Systems. Auch wenn der Kapitalismus in Schwierigkeiten steckt, wird er sich vermutlich in veränderter Form wiederfinden. Eine völlige Ablösung des Systems wird nur stattfinden, wenn die Menschen aktiv eine neue Ordnung gestalten.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.