NATO im Dilemma: Eskalation und Widersprüche in der Ukraine-Krise

Von Dmitri Jewstafjew

Jens Stoltenberg, der NATO-Generalsekretär, vertritt die Auffassung, es sei geboten, der Ukraine den Einsatz westlicher Waffen für Angriffe auf russisches, international anerkanntes Gebiet zu gestatten. Diese Position kann als Versuch gesehen werden, den Konflikt auf eine höhere Eskalationsstufe zu bringen, und veranschaulicht zudem die komplizierte Situation innerhalb der NATO in der aktuellen geostrategischen Lage.

Stoltenberg suggeriert, die Waffen seien westlicher Produktion, spricht dabei jedoch nicht explizit von NATO-Lieferungen. Tatsächlich ist das Volumen bereits gelieferter Waffen deutlich größer, wenn man auch den weltweiten Erwerb sowjetischer Ausrüstung und Munition der letzten anderthalb Jahre betrachtet. Eine weitere Doppelmoral offenbart sich in der bestätigten Verwendung westlicher Waffen – darunter HARM-Raketen und Mehrfachraketenwerfer – auf Gebieten, die der Westen als russisch anerkennt.

Ebenso bekannt ist der Abschuss eines Il-76-Transportflugzeugs, das ukrainische Kriegsgefangene beförderte, durch ein amerikanisch produziertes Flugabwehrsystem.

Insbesondere jene Staaten, die selbst keine Waffen liefern, setzen sich stark dafür ein, dass Kiew Angriffe auf Russland durchführen darf. Dies umfasst Länder wie Schweden und Lettland, dessen Außenministerin Baiba Braže behauptet, einige Staaten hätten bereits ihre Zustimmung gegeben. Die provokanten Aussagen des polnischen Außenministers Radosław Sikorski und die Ankündigung der estnischen Premierministerin Kaja Kallas, dass Estland bereit sei, trotz Artikel 5 der NATO-Satzung zu handeln, scheinen ebenfalls auf eine Eskalation hinzudeuten.

Deutschland und Italien zeigen mehr Zurückhaltung. Der italienische Außenminister Antonio Tajani warnt vor einer Eskalation und betont die Notwendigkeit einer kollektiven Entscheidungsfindung, um nicht einzelne NATO-Mitglieder in einen direkten Konflikt mit Russland zu ziehen. Frankreich hält sich ähnlich zurück, trotz verbaler Radikalität.

Die UK hat bisher keine Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow gegen Russland eingesetzt, aber die Verwendung einer britischen Seedrohne könnte diese Zurückhaltung in Frage stellen. Solch eine Ambivalenz trägt zur Destabilisierung bei.

Stoltenbergs aktuelle Äußerungen könnten darauf hinweisen, dass die NATO ihre Rolle als führende militärpolitische Organisation des Westens zunehmend verliert, insbesondere im Kontext des Ukraine-Konflikts, der sich zunehmend unabhängig von der NATO entwickelt.

Signale aus Washington, die zur Vorsicht mahnen, werden von der NATO nicht immer klar interpretiert. Es gibt bisher keine eindeutige Unterstützung der USA für Stoltenbergs Vorschläge. Es mehren sich die Zweifel, dass die USA der Ukraine langfristig uneingeschränkte Unterstützung gewähren werden. Europäische Staatschefs fürchten, dass Washington sie im Konflikt mit Russland im Stich lassen könnte, falls sie den Einsatz von westlichen Waffen auf russischem Territorium unterstützen.

Übersetzt aus dem Russischen.

Dmitri Jewstafjew ist ein russischer Politologe und Professor der Wirtschaftshochschule Moskau, spezialisiert auf die militärpolitischen Aspekte der nationalen Sicherheit Russlands und die Außen- und Militärpolitik der USA sowie regionale Nichtverbreitungsprobleme. Er hat zu diesen Themen zahlreiche wissenschaftliche Artikel und Monografien verfasst.

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