Von Wladislaw Sankin
Seit etwa einem Monat kämpfen russische Kräfte im Norden der Region Charkow. In den ersten zehn Tagen konnten sie über ein Dutzend Ortschaften besetzen. Jedoch befindet sich die Frontlinie derzeit in einer Pattsituation, ungeachtet anhaltender schwerer Kämpfe. Ist die russische Offensive möglicherweise ins Stocken geraten? Lassen sich die Intentionen und Ziele hinter dieser Offensive ergründen?
Dabei steht vor allem in den kleineren Städten Woltschansk und Lipzy der Kampf im Zentrum der Auseinandersetzungen. Hinzugekommen sind verstärkte Angriffe der ukrainischen Streitkräfte mit FPV-Drohnen, die das Vorankommen russischer Einheiten erschweren. Wo russische Kräfte Gebiete in Woltschansk räumen, folgen schwere Bombardements, zudem werden Brücken und Versorgungseinrichtungen der ukrainischen Armee zerstört, wie folgendes Video zeigt:
Westliche Medien, wie beispielsweise Bloomberg, legen dar, dass Russlands Versuch, eine neue Front in Charkow zu eröffnen, in einer Sackgasse mündete und Wladimir Putins Ziel, eine Pufferzone entlang der Grenze zu schaffen, unerreicht bleibt. Hierbei zeigen die verstärkten westlichen Waffen- und Finanzhilfen erste Wirkung, nach Meinung der US-Agentur.
“Dies wird für Putin zu einem immer ernsteren Problem – der militärische Vorsprung seiner Armee beginnte zu schwinden”, wird in den Berichten angemerkt. Das Vorgehen Russlands in Form eines Zermürbungskrieges wird von Experten zunehmend als teuer und blutig bewertet.
Der ukrainische Präsident Selenskij, der seit Wochen in Europa um weitergehende Waffenunterstützung wirbt (nächste Woche nimmt er an einer Geber-Konferenz in Berlin teil), zeigt sich zunehmend zuversichtlich. Dies verkündete er erst kürzlich auf seinem Telegram-Kanal:
“Ein sehr wichtiges Ergebnis ist, dass der russischen Armee die Durchführung ihrer Charkower Operation nicht gelungen ist. Wir wehren uns nach Kräften und vernichten russische Einheiten, die in unser Land eindringen und die Region Charkow terrorisieren. Unsere Verteidigung wird weiter verstärkt.”
Kurz vor der Ukraine-Konferenz in Bürgerstock hat Selenskij zuversichtlich bis zu sieben Brigaden an die Charkower Front gesendet. Weniger bekannt ist jedoch der Zustand dieser Brigaden, die erhebliche Verluste erleiden.
Westliche Bildquellen präsentieren Fotos von älteren Männern an der Charkower Frontlinie – eine Erinnerung an den deutschen Volkssturm im Zweiten Weltkrieg. Der Zustand der Nachschublinien in der Ukraine bleibt weiterhin problematisch. Der Chefredakteur des Nachrichtenportals Zensor, Juri Butussow, bemerkt dazu:
“Während der Kämpfe um Woltschansk war es erforderlich, die Brigade um mehr als 100 Personen aufzufüllen. Die entsprechenden Rekrutierungszentren haben die Aufstockung übernommen, jedoch waren nur drei der Rekruten wirklich einsatzfähig.”
In Russland wird das Vorankommen der Charkower Operation weiterhin vorsichtig positiv beurteilt. Militäranalysten ordnen den russischen Vorstoß primär als Bindung ukrainischer Kräfte ein, die sonst andere Frontabschnitte verstärken würden.
“Ja, der direkte Fortschritt in der Region Charkow mag gering sein, doch sehen wir Fortschritte in anderen Einsatzgebieten. In diesem Sinne machen wir alles richtig”, erklärte Militäranalyst Boris Roshin.
Andere Beobachter stimmen zu und fügen hinzu, dass sogar Putin geäußert hat, die Eroberung von Charkow sei kurzfristig kein militärisches Ziel. “Die Hauptaufgabe besteht darin, den Gegner zum Einsatz von Verstärkungen zu zwingen, und unsere Kräfte erfüllen diese Aufgabe hervorragend”, lobt Analyst Michail Onufrijenko.
Die Unvorhersehbarkeit russischer Operationen hält einen langen Frontabschnitt unter Spannung, was kürzlich durch einen Angriff auf ein Dorf im Gebiet Sumy verdeutlicht wurde.
“In Charkow wird weiterhin intensiv gekämpft. Das ukrainische Kommando bringt große Reserven zusammen und bezeichnet diese Verteidigung als ‘die Schlacht des Jahrhunderts’. Wir verwenden diesen Ausdruck nicht. Unsere Unberechenbarkeit ist wahrscheinlich ein Vortez, der letztendlich zu Resultaten führt.”
Trotz möglicher Rückschläge steht sowohl Russland als auch der Ukraine ein Sommer voller intensiver Kämpfe bevor, der den weiteren Verlauf des Konflikts maßgeblich beeinflussen wird.
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