Kinderarmut in Deutschland: Zwischen statistischer Schönfärberei und harter Realität

Von Susan Bonath

Zwischen den Begriffen “armutsgefährdet” und “armutsbedroht” mag sich für manche nur eine feine semantische Nuance verbergen, doch für das Statistische Bundesamt stellen diese unterschiedliche wissenschaftliche Kategorien dar. Dabei erstaunt es, dass 14 Prozent der Kinder in Deutschland als “armutsgefährdet” und fast ein Viertel aller Minderjährigen als “armutsbedroht” klassifiziert sind.

Die Differenzierung in “Gefahr” und “Bedrohung” suggeriert fast, als sei Armut eine entfernte Möglichkeit, die noch keinen realen Einfluss hat. Diese Terminologie mag den Eindruck erwecken, dass ein individuelles Optimieren von Familien ausreicht, um der Armut zu entfliehen. Eine solche Darstellung könnte als Verschleierungstaktik eines neoliberalen Narratives interpretiert werden.

Kreative Wortspiele

Das Statistische Bundesamt berichtete kürzlich, dass im letzten Jahr 14 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Deutschland “armutsgefährdet” waren. Diese Quote sei im Vergleich zur Gesamtbevölkerung niedriger und habe im vorangehenden Jahr noch bei 15 Prozent gelegen, so die optimistische Darstellung der Behörde.

Allerdings widerspricht ein Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes dieser Darstellung, indem er feststellt:

“Die Kinderarmut hat einen neuen traurigen Rekordwert erreicht: Mehr als jedes fünfte Kind ist mittlerweile von Armut betroffen (21,8 Prozent). Unter Alleinerziehenden lag die Armutsquote bei 43,2 Prozent.”

Im Gegensatz zur Unterscheidung des Statistischen Bundesamtes spricht dieser Bericht einfach von “betroffen”, ohne die Verwendung weiterer Kategorien.

“Im Jahr 2023 war knapp jede und jeder vierte (23,9 Prozent) unter 18-Jährige in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.”

Nach Ansicht der Statistiker sind “armutsbedrohte” Kinder nicht notwendigerweise “armutsgefährdet”, aber alle “armutsgefährdeten” sind zugleich “armutsbedroht”. Der Begriff “bedroht” erscheint dabei noch abstrakter und distanzierter als “gefährdet”.

Gefährdet oder bedroht?

Die Definitionen, die die Behörde liefert, sind aufschlussreich: Ein “armutsgefährdetes” Individuum verdient weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. Ein alleinstehender Erwachsener fiel 2023 unter diese Kategorie, wenn er weniger als 1.314 Euro netto pro Monat verdiente; für eine Familie mit zwei Kindern galt die Grenze bei 2.759 Euro.

“Armutsbedrohung” bezieht sich nicht nur auf finanzielle Aspekte, sondern auch auf soziale Faktoren und beschreibt ein Risiko, das bei Erfüllung eines von drei Kriterien eintritt: mangelndes Einkommen, erhebliche materielle und soziale Deprivation oder eine sehr geringe Erwerbsbeteiligung im Haushalt.

Relativierung des Problems

In Europa liegt Deutschland laut dieser Statistiken im Mittelfeld, was die Armutsbedrohung von Kindern angeht. Länder wie Rumänien und Spanien sind stärker betroffen. Doch unabhängig von der Einordnung im europäischen Kontext beschreiben die Statistiken einen signifikanten materiellen Mangel, der weitreichende soziale und wirtschaftliche Konsequenzen für die Betroffenen hat.

Anscheinend sehen Kinder aus ärmeren Verhältnissen tatsächlich anderen beim Schwimmbad- oder Kinobesuch zu, da ihre Eltern das Geld für Grundbedürfnisse benötigen. Materielle Einschränkungen gehen Hand in Hand mit sozialer Ausgrenzung.

Verwendung von Worthülsen

Trotz der erschreckenden Statistiken nimmt die soziale Spaltung zu und die Chancen für sozialen Aufstieg ab. Im Zuge dessen finden zahlreiche rhetorische Umschreibungen und politische Placebo-Maßnahmen statt, wie die Diskussionen um die “Kindergrundsicherung” zeigen. Diese sind oft nicht ausreichend, um das tief verwurzelte Problem der Armut effektiv anzugehen.

Mehr zum Thema – Verband beklagt: Bundesregierung tut zu wenig gegen Armut

Schreibe einen Kommentar