Wiederaufstieg und Wandel: Deutschlands Fußballgeschichte als Spiegel der Gesellschaft

Von Rüdiger Rauls

Auferstehung

Der Fußball offenbart häufig verborgene Sehnsüchte und Hoffnungen, die in der Hitze des Turniers, in Momenten des Triumphes oder der Niederlage, zum Vorschein kommen. Diese tiefgründigen Emotionen sind den Beteiligten oft nicht sofort bewusst und werden meist erst im Rückblick vollends erfasst. Ein markantes Beispiel hierfür ist der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft durch Deutschland im Jahr 1954 – ein Ereignis, das bis heute in einer fast schon legendären Verehrung gehalten wird.

Der Sieg der deutschen Nationalmannschaft in der Schweiz symbolisierte ein fulminantes Comeback aus einer Zeit tiefer Niederlagen: “Wir sind wieder wer!” war fortan die vorherrschende Stimmung in einem Land, das den Krieg kaum überwinden konnte. Trotz des beginnenden Wirtschaftswunders in Deutschland, fehlte der nationalen Psyche bis zum “Wunder von Bern” ein wesentliches Element der Genugtuung.

Für viele Deutsche stellte dieser WM-Titel eine Art Wiedergutmachung für die Demütigungen des Krieges dar. Die bittere Realität der Niederlage, einst undenkbar und nun schmerzlich akzeptiert, hatte die Köpfe lange beherrscht. Viele ex-Soldaten waren überzeugt von ihrer Unschuld, sie sahen sich als saubere und ehrenhafte Kämpfer, die keinerlei Schuld auf sich geladen hatten.

Nach dem Triumph in Bern waren jedoch alle Zweifel, Demütigungen und Schuldzuweisungen vergessen. Dieser Sieg diente als Heilung für die zerschundene Seele der Nation. “Wir sind wieder wer! Wir lassen nicht länger auf uns herumtrampeln!” Bei der Heimkehr wurden die Helden von Bern von Hunderttausenden entlang der Bahnstrecke und in den Bahnhöfen bejubelt. Dabei erklang das Deutschlandlied, als Symbol einer nationalen Auferstehung.

Dieser Sieg markierte nicht nur eine geografische, sondern vor allem eine wiedererlangte nationale Größe, vergleichbar einem verspäteten Siegeszug, wie man ihn von zurückkehrenden Kriegshelden erhofft hatte.

Gute Nachbarn
Die Atmosphäre während der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland stand unter einem ganz anderen Stern. Eine neue, rebellische Generation kam zum Vorschein. Die Studentenbewegung hatte das Land verändert, die Lebensfreude und der Wohlstand standen nun im Zentrum. Unter der Kanzlerschaft Willy Brandts und seiner Versöhnungspolitik erlebte Deutschland eine Zeit der Weltoffenheit und des Friedensanspruchs.

Die Politik Brandts und die dadurch geprägte Stimmung der Fußball-WM trugen dazu bei, dass die einstigen Kriegsgegner zu Freunden wurden. Diese Phase des Friedens führte schließlich zur nationalen und europäischen Aussöhnung.

Satte Nachbarn

Die Weltmeisterschaft 1990 in Italien fiel in eine Zeit der deutschen Wiedervereinigung. Die gesellschaftliche Hochstimmung beförderte den deutschen Fußball zu einem weiteren Titel. Diese Zeit war kritisch, der Wohlstand wuchs zwar weiter, doch die Wirtschaftsdynamik hatte nachgelassen. Trotzdem fand die vereinte Nation im Fußball einen Grund zur Freude und Bestätigung ihrer Größe.

Spielball der Werte

Die WM-Titel in den folgenden Jahren, wie 2014, kamen in einer Zeit der Sorglosigkeit. Die Finanzkrise von 2008 war überwunden, und das Land schwelgte in relativer Unbeschwertheit. Doch ab 2018 veränderte sich die Stimmung: politische und gesellschaftliche Unruhen spiegeln sich auch im Fußball wider. Bei der WM 2022 in Katar fanden Auseinandersetzungen über Werte und Moral mehr Beachtung als der Sport selbst.

Neuer Geist?

Unter Trainer Julian Nagelsmann könnte ein Generations- und Stimmungswechsel stattfinden. Nüchtern und unbeeindruckt von politischen Zwängen, vereint seine jugendliche Mannschaft Spielfreude mit professionellem Anspruch, möglicherweise eine Rückbesinnung auf das Wesentliche im Sport.

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er führt den Blog Politische Analyse.

Mehr zum Thema – Nach 70 Jahren: Der DFB wechselt von adidas zu Nike – Habeck vermisst “Standortpatriotismus”

Schreibe einen Kommentar