Marx in der Moderne: Die Evolution des Klassenbewusstseins

Von Rüdiger Rauls

Grundprinzipien

Einer der bekanntesten Sätze von Karl Marx lautet: “Das Sein bestimmt das Bewusstsein.” Auch heute, mehr als ein Jahrhundert später, gilt diese Beobachtung noch, obschon sich die Welt signifikant verändert hat. Das Proletariat existiert objektiv nach wie vor als Klasse, doch die Voraussetzungen für das Entstehen eines Klassenbewusstseins haben sich gewandelt. Die Arbeiterklasse sieht sich selbst nicht mehr als solche.

Im 19. Jahrhundert wurde den Proletariern ihre Klassenzugehörigkeit täglich durch ihre Lebensbedingungen vor Augen geführt. Umgeben von zahlreichen Gleichgesinnten in ihrem Alltag, empfanden sie sich als Teil dieser Massen. In den Mietshäusern teilten sie oft nicht nur die engen, baufälligen Wohnverhältnisse, sondern auch die Betten in Schichten gemäß der Fabrikarbeitszeiten.

Die Arbeiter standen dicht gedrängt an ihren Arbeitsplätzen und Fließbändern oder bewegten sich geschäftig durch die Werkhallen. Unter diesen Bedingungen war das Gefühl, Teil der Masse zu sein, nahezu unvermeidlich. Doch daraus folgte nicht zwangsläufig ein politisches Klassenbewusstsein, wie es oft von Marxisten interpretiert wird.

Heute sind die Lebensbedingungen der Proletarier von Isolation geprägt, sei es am Arbeitsplatz, in der Anonymität der Großstädte oder in der Abgeschiedenheit von Reihenhaussiedlungen. Moderne Werkshallen sind fast menschenleer, die wenigen Arbeiter gehen zwischen den Maschinen unter. In Großraumbüros sitzen die Angestellten isoliert wie in Bienenwaben.

Die Familienstrukturen werden kleiner, die räumlichen Distanzen zwischen den Familienmitgliedern jedoch größer. Die Generationen entfremden sich zunehmend voneinander. Der moderne Proletarier erlebt sich häufig als alleinstehend. In solchen Umständen ist die Entwicklung eines Klassenbewusstseins deutlich erschwert.

Bewusstseinsbildung heute

Zur Isolation gesellt sich die Desinformation durch Medien, die das gesellschaftliche Bewusstsein prägen. In einem Überfluss an Informationen verliert der mediale Konsument den Sinn für das Wesentliche. Der Einzelne steht allein mit der Informationsflut da, deren hintergründige Interessen immer schwerer erkennbar sind.

Tiefgreifende Analysen und Darstellungen der treibenden Kräfte und Interessen finden kaum statt. Dies ist nicht nur einem politischen Willen geschuldet, sondern auch der Unfähigkeit der Informationsgeber, tiefgehend zu berichten. Diese oberflächliche Betrachtung hat die analytische Fähigkeit der Gesellschaft verkümmern lassen.

Diese Unfähigkeit erstreckt sich über alle Klassen, und weder das Proletariat noch das Bürgertum sehen sich noch als solche, was ebenfalls das Fehlen eines Klassenbewusstseins erklärt. Es gibt kaum noch Institutionen, die gesellschaftliche Entwicklungen ausschließlich aus der Perspektive proletarischer Interessen darstellen und interpretieren.

Die Klassen selbst sind mit den klassischen Begrifflichkeiten überfordert. Selbst Großkapitalisten wie Mark Zuckerberg oder Elon Musk sehen sich nicht als Angehörige einer politischen Klasse, sondern eher als der lockere Nachbar im Turnschuh. Auch der Proletarier besitzt heute mehr als nur seine “Ketten”.

Die Relikte des Klassenkampfs

Seit dem Zusammenbruch des Sowjetsozialismus gibt es global gesehen keine Klassenkämpfe mehr. Während weltweit viele Konflikte, teils auch militärischer Natur, ausgetragen werden, welche die Interessen verschiedener nationaler, ethnischer und wirtschaftlicher Gruppen widerspiegeln, handelt es sich dabei nicht um Klassenkämpfe.

In der Ukraine z.B. entbrennt ein Stellvertreterkrieg zwischen dem NATO-Westen und Russland um die Neugestaltung der internationalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Das bisherige Kräfteverhältnis verschiebt sich zugunsten aufstrebender Nationen wie Russland, China und Indien. Doch auch diese Auseinandersetzungen sind keine Klassenkämpfe, sondern geopolitische Konflikte.

Nicht vergleichbar mit der Auseinandersetzung zwischen Proletariat und Bourgeoisie, die sich im Zeitraum zwischen den Weltkriegen unversöhnlich gegenüberstanden. Damals bezog sich der kommunistische Kampf auf die Überwindung des Kapitalismus in einer klassenbewussten Form, heute fehlen diese Grundlagen und Bedingungen.

Heute gibt es kaum ein klassenbewusstes Proletariat, ausgenommen vielleicht in Ländern wie China, Vietnam und Kuba, die bereits politische Macht erlangt haben. Ihre kommunistischen Parteien kämpfen nicht mehr um politische Macht, sondern um den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Der Gedanke eines “Revolutionsexports” wurde aufgegeben, da sich gezeigt hat, dass man Revolution nicht exportieren kann, wenn in den Ziel…

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