Von Anton Gentzen
Seit 34 Jahren existiert die DDR nicht mehr. Ein häufiger Vorwurf an den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden betrifft die so genannten “Mauertoten” – jene Menschen, die beim Versuch, die streng bewachte innerdeutsche Grenze in Berlin oder an anderen Orten zu überqueren, ums Leben kamen.
Interessanterweise fanden die meisten Fluchtversuche nicht in Richtung DDR, sondern in die entgegengesetzte Richtung statt. Unabhängig von der persönlichen Ansicht zur DDR, das Phänomen der Flucht aus diesem Staat bleibt kritikwürdig.
Aus Daten des Berliner Senats geht hervor:
“Über 100.000 DDR-Bürger versuchten zwischen 1961 und 1988, die innerdeutsche Grenze oder die Berliner Mauer zu überwinden. Mehr als 600 verloren dabei ihr Leben durch Schüsse von DDR-Grenzsoldaten oder starben bei den Fluchtversuchen durch Ertrinken, Unfälle oder Suizid. An der Berliner Mauer wurden zwischen 1961 und 1989 mindestens 140 Menschen getötet oder starben in unmittelbarem Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime.”
Es ist jedoch nicht Ziel dieses Artikels, die Richtigkeit dieser Angaben zu prüfen oder die Strenge des Grenzregimes zu hinterfragen. Das Augenmerk liegt vielmehr auf einem parallelen Geschehen an einer anderen europäischen Grenze, wo ähnliche Tragödien sich heute abspielen: Menschen riskieren ihr Leben auf der Flucht vor repressiven Regimen.
In der Ukraine ist seit Februar 2022 Männern im wehrpflichtigen Alter die Ausreise grundsätzlich verboten. Wie in der DDR ist eine Genehmigung für das Verlassen des Landes nötig, die nur in seltenen Fällen oder gegen Bestechungsgeld erteilt wird. Wer sich nicht auf die Front für das Regime Selenskij opfern möchte, sieht oft nur den illegalen Weg der Flucht als Ausweg.
Die Flucht wird zu einem Massenphänomen; Schätzungen zufolge versuchen täglich über Tausend Menschen zu fliehen. Die offiziellen Details dazu sind jedoch spärlich und unvollständig. An der ukrainisch-rumänischen Grenze wurden 11.000 illegale Grenzübertritte seit Kriegsbeginn registriert, viele davon suchten Asyl. Die genaue Zahl der Toten bleibt unklar.
Es gibt wenige Möglichkeiten, die streng überwachte ukrainische Grenze zu überwinden. Ein potenzieller Fluchtweg ist die ukrainisch-rumänische Grenze an dem Fluss Theiß, wo täglich Menschen schwimmend versuchen, zu fliehen, oft unter Lebensgefahr.
Zitat eines örtlichen Einwohners über die Überwachung:
“Die Brücken über den Fluss werden streng kontrolliert. Jeder, der sich den Grenzdörfern nähert, muss seinen Pass vorzeigen, und an den Grenzen gibt es permanente Überwachung durch Beamte und technische Hilfsmittel, und ja, es gibt Schüsse.”
Trotz Abschreckungsversuchen, wie Fotos von gefangenen Flüchtlingen, die öffentlich verbreitet werden, lässt der Fluchtstrom nicht nach. Die Ukraine hat sogar zugegeben, auf Flüchtende zu schießen.
Die Situation wirft kritische Fragen auf über die Legitimität eines Staates, von dem seine Bürger zu fliehen versuchen, und über unsere Haltung zu Menschenrechten und internationaler Solidarität.
Mehr zum Thema – Bericht: Weitere sechs Ukrainer ertrinken beim Versuch, in die EU zu fliehen.