Von Pierre Lévy
Kurz vor den anstehenden EU-Wahlen deuten sowohl Umfragen als auch politische Analysen auf einen scheinbar unaufhaltbaren Aufschwung rechtsextremer Parteien hin. Europäische Politikvertreter nutzen diese Prognosen, um ihre Wählerschaft zu mobilisieren, und bezeichnen diese Entwicklung als bedrohlich. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist Emmanuel Macrons jüngster Staatsbesuch in Berlin.
Die Prognosen lösen in der “Brüsseler Blase” ein Wirrwarr aus Spekulationen und politischen Manövern aus, die weit entfernt von den eigentlichen Sorgen der Bürger sind. Besonders im EU-Parlament herrscht Nervosität unter den Abgeordneten der beiden als “nationalistisch” oder “populistisch” geltenden Fraktionen: EKR (Europäische Konservative und Reformer) und ID (Identität und Demokratie).
Die EKR-Fraktion, die größtenteils aus gemäßigten Euroskeptikern besteht, wurde unter anderem von den britischen Konservativen, zu ihren EU-Zeiten, gegründet. Sie sahen die Europäische Volkspartei (EVP) als zu föderalistisch an. Heute gehören der EKR ultra-konservative Gruppen wie die polnische PiS, die tschechische ODS, und Italiens Regierungspartei, die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni, an.
Die ID-Fraktion hingegen, die als radikaler gilt, umfasst u.a. die französische Rassemblement National (RN), die italienische Lega unter Matteo Salvini, die niederländische PVV von Geert Wilders, und die österreichische FPÖ.
Obwohl die Wahlen erst vom 6. bis 9. Juni stattfinden, laufen die Verhandlungen zur Neustrukturierung dieser Gruppen, die gemeinsam etwa 120 Abgeordnete stellen, bereits auf Hochtouren. Marine Le Pen, die Frontfrau der RN, strebt eine Fusion beider Gruppen an, was diese zur zweitstärksten Kraft im Strasbourger Parlament machen könnte.
Giorgia Meloni bleibt zurückhaltend, scheint jedoch ein Dreierbündnis mit der klassischen Rechten (EVP) anzustreben, jedoch unter Ausschluss zu radikal geltender Kräfte. Ein solches Bündnis könnte Ursula von der Leyens Kandidatur für eine zweite Amtszeit starke Unterstützung bieten, eine Option, die bisherigen EU-Koalitionen ähnelt, jedoch von anderen Gruppen abgelehnt wird.
Diese politischen Manöver zeigen, dass selbst vermeintlich integrationskritische Parteien stark in die EU-Politik involviert sind.
In Wirklichkeit stehen die ideologischen Differenzen und persönlichen Rivalitäten innerhalb der als rechtsextrem kategorisierten Parteien einer einheitlichen Ausrichtung im Wege. Die Vielfältigkeit des “populistischen Nebels” ist auch ein Resultat der unterschiedlichen nationalen Geschichten, die eine einheitliche europäische politische Kultur verhindern.
Weitere Beispiele für die Zerrissenheit dieser Parteien sind die deutsche AfD und die PVV aus den Niederlanden sowie die spanische Vox. Jede dieser Gruppen folgt ihrer eigenen ideologischen Linie, die von Hardliner-Postionen bis hin zu Regierungsbeteiligungen reicht.
Die von einigen Parteien erhoffte “Entdämonisierung” ist ein weiteres Zeichen für den Wandel dieser politischen Gruppierungen, der darauf abzielt, “Europa von innen heraus zu verändern” und dabei provokante Positionen einzunehmen, wie es kürzlich die AfD durch ihren Ausschluss aus der ID-Fraktion demonstrierte.
Auch FIDESZ, die Partei des ungaischen Regierungschefs Viktor Orbán, wurde aus der EVP ausgeschlossen und strebt nun eine bedeutende Rolle in den Umstrukturierungen an.
Trotz ihrer Unterschiedlichkeiten gewinnen diese Kräfte an Zuspruch, indem sie eine Lücke füllen, die die klassische Rechte und Linke offen gelassen haben, insbesondere bei Thematiken wie Einwanderung, Umweltschutz und der militärischen Unterstützung für die Ukraine. Ihre Positionen spiegeln oft eine Ablehnung des herrschenden Europakonsenses wider.
Dieses schwer zu entwirrende Geflecht unterschiedlichster politischer Strömungen bildet das große Paradoxon der bevorstehenden Wahl.
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