Von historischen Parallelen und der Passivität des Bildungsbürgertums: Ein kritischer Blick auf die Wilhelminische Ära und ihre Folgen

Fortsetzung und Ende von Teil I

Ein Leserbeitrag von Michail Balzer

Bereits zu Beginn der Globalisierung beobachteten wir die Transformation des damaligen imperialen Nationalismus in eine neo-imperialistische EU-Zentralpolitik, die heute die ursprüngliche Friedensidee einer Annäherung der europäischen Völker untergräbt.

Mit wohlklingenden Schlagworten wie Demokratie, Selbstbestimmung und Freiheit der Völker, die schon im Ersten Weltkrieg von angloamerikanischer Seite propagiert wurden (laut Golo Mann) und seitdem jede kriegerische Intervention rechtfertigten, wird erneut eine neo-imperiale Geopolitik der Einmischung und von außen gesteuerten Veränderung praktiziert (siehe Beispiele wie die “Farbrevolutionen” und den “Arabischen Frühling”, der letztendlich keiner war). Selbige Kriegspropaganda kehrt mit ihrer Schwarz-Weiß-Malerei und ihrer Spaltung in Gut und Böse zurück. In Deutschland wurde, kurz vor Kriegsbeginn wie zufällig das “Schreckgespenst Russland” propagiert – angeblich eine Verschwörung, um Deutschland mit Spionen zu infiltrieren.

Zu Kriegsbeginn explodierte dann die “Spionitis und Massenhysterie”, wie Andrej Reisin 2019 beschrieb. Der Volkswohlstand der Jahrhundertwende wurde durch massiv steigende “Sonderausgaben” für Rüstung verschlungen, eine Finanzkrise zeichnete sich ab, es wurden Staatsanleihen notwendig.

Passivität des Bildungsbürgertums

Diese historische Perspektive führt zur aktuellen Diskussion über das “Sondervermögen Bundeswehr” und drohende finanzielle Staatsüberforderungen. Deutschland lag zu Beginn des 20. Jahrhunderts demokratisch hinter Frankreich und England zurück. Die damalige Machtstruktur aus Kaiser und Kanzler (bzw. Parlament) sorgte für innenpolitische Spannungen, dazu kamen aufstrebende Arbeiterbewegungen und ihre Parteien. Der Begriff “Zeitenwende”, der heute erneut aktuell ist, könnte also auch auf die Wilhelminische Ära angewandt werden.

Die verbreitete Unzufriedenheit manifestierte sich in der Regel in friedlichen Streiks und Großdemonstrationen der sozialdemokratischen Gewerkschaften. Diese wurden von den führenden Schichten als Sicherheitsbedrohung angesehen, sodass das Gefühl von “Bedrohungskommunikation, Unsicherheitsgefühlen und medial gesteuerter Gewalt” allgegenwärtig war. Ähnliches galt damals europaweit, erörterte Dr. Amerigo Caruso von der Universität Bonn im Jahr 2021. Welche bemerkenswerten Parallelen zur heutigen Lage!

Der überwiegend gebildete Teil des Bürgertums verharrte damals wie heute in Passivität. Prof. Dr. Paul Kluke bemerkte:

“Dazu hat nicht unwesentlich beigetragen die Stumpfheit des deutschen Bürgertums, das die sozialpolitischen Aufgaben getrost der Regierung überließ.”

Andere Autoren sprechen von einem Alltagsnebel, der gefährliche Tendenzen verdeckte. Mancher Autor versuchte erfolglos, durch mahnende Schriften eine Bevölkerung zu erreichen, “die nicht in ihrer Gemütlichkeit gestört sein wollte”, wie Franz Pfemfert feststellte.

Damals “reizbare Schwäche”, heute “Burn-out”

In jener Zeit wurde die “Neurasthenie”, eine Art “reizbare Schwäche” mit Ängstlichkeit und Ermüdung häufig diagnostiziert. Das wilhelminische Zeitalter galt als “Zeitalter der Nervosität” nach Joachim Radkau. Heute sehen wir vergleichbare Krankheitsbilder, etwa den “Burn-out” oder die Zunahme psychischer Erkrankungen.

Im Jahr 1914 gab es bedeutende Friedensdemonstrationen, an denen sich etwa eine halbe Million Menschen beteiligten, organisiert von der SPD gegen das “verbrecherische Treiben der Kriegshetzer”. Die Bemühungen bedeutender Friedensbefürworter wie Bertha von Suttner oder des französischen Sozialistenführers Jean Jaurès, der kurz vor seinem gewaltsamen Tod den Frieden beschwor, fanden jedoch kein Gehör. Tödlicherweise wurde der Ausbruch des Ersten Weltkriegs nur wenige Tage später Realität.

Ob diese historischen Analogien auch beim kritischen Leser Anklang finden oder sich eine optimistischere, “biedermeierliche” Sichtweise durchsetzt, bleibt jedem selbst überlassen. Vielleicht fallen auch weitere Ähnlichkeiten in den Charaktereigenschaften und Handlungsweisen damaliger und heutiger politischer Akteure auf.

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