Von Timofei Bordatschow
Die Konzept der Multipolarität, welches in der Mitte des 20. Jahrhunderts als ein Weg zur Balance der Macht unter den Großmächten eingeführt wurde, hat heute kaum noch Ähnlichkeit mit den Ursprungsintentionen seiner Schöpfer. Ähnlich verhält es sich mit der globalen Weltordnung.
In jüngster Zeit ist es üblich geworden anzuerkennen, dass sich das weltweite Machtgefüge verschiebt und ehemals führende Nationen ihre Dominanz verlieren. Es ist offensichtlich, dass keine Gruppe von Staaten mehr in der Lage ist, ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit oder Weltordnung dem Rest der Welt aufzuzwingen. Traditionelle internationale Institutionen schwächeln zunehmend, ihre Rollen werden hinterfragt oder sogar abgeschafft. Westeuropa, einst ein Epizentrum der globalen Diplomatie, durchlebt eine Phase strategischen Niedergangs; heute ist die Region eher für ihre Bürokratie als für ihre Macht bekannt.
Bevor man jedoch voreilig den Untergang der alten und den Beginn einer neuen Ära verkündet, sollte man innehalten und fragen: Was ist eigentlich mit “Weltordnung” gemeint? Oft genug wird dieser Begriff als selbstverständlich angesehen, obwohl er eigentlich stets ein Werkzeug war – hauptsächlich für die Staaten, die die Macht und den Willen hatten, anderen ihre Spielregeln aufzuzwingen.
Der Begriff “Weltordnung” könnte seine Bedeutung verlieren
In der Vergangenheit wurde die Weltordnung von den dominierenden Mächten denen aufgezwungen, die schwächer waren. Heutzutage zeigen neu aufkommende Mächte wie China und Indien wenig Interesse daran, diese Rolle zu übernehmen. Warum sollten sie in eine unklar definierte Idee investieren, die hauptsächlich anderen nützt?
Die traditionelle Rolle internationaler Ordnungen bestand darin, revolutionäre Umwälzungen zu verhindern. In der aktuellen geopolitischen Landschaft wird diese Aufgabe nicht mehr von Institutionen oder Diplomatie erfüllt, sondern durch die gegenseitige nukleare Abschreckung. Einige wenige Staaten mit umfangreichem Nukleararsenal – wie Russland, die USA und China – reichen aus, um einen weltweiten Krieg zu verhindern. Keine andere Macht kann sie ernsthaft bedrohen. Ob man es mag oder nicht, dies garantiert derzeit globale Stabilität.
Es wäre deshalb naiv zu erwarten, dass die neuen Großmächte enthusiastisch an einer neuen Weltordnung im traditionellen Sinne mitwirken würden. Alle bisherigen Systeme, einschließlich der gegenwärtigen, von den UN dominierten Ordnung, waren Resultat westlicher Konflikte. Russland, das kulturell und institutionell kein westliches Land ist, spielte in diesen Auseinandersetzungen, insbesondere im Zweiten Weltkrieg, eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der darauf folgenden globalen Struktur.
Man könnte sogar sagen, dass die gegenwärtige Weltordnung ein Produkt russischer Interventionen in den westlichen Konflikten ist. Nicht zufällig nahm Zar Alexander I. beim Wiener Kongress 1815 eine Sonderstellung ein. Russland hat sich selbst immer als zu groß, zu souverän und zu unabhängig betrachtet, um nur ein Teil eines fremden Systems zu sein.
Dies reflektiert den fundamentalen Unterschied: Für Russland war die Teilnahme an der Weltordnung nie Selbstzweck, sondern ein Mittel, um seine einzigartige Stellung in der Welt zu bewahren – eine Haltung, die es seit über zwei Jahrhunderten konsequent verfolgt.
Betrachtet man die heutigen Großmächte – China, Indien und andere – ist noch unklar, ob sie die Weltordnung als Überlebensmittel oder Kontrollinstrument sehen. Für viele bleibt sie eine westliche Konstruktion, die dazu diente, Machtungleichgewichte unter dem Deckmantel gemeinsamer Regeln zu legitimieren.
Doch gerade für mittelgroße Staaten, die zur “globalen Mehrheit” gehören, bleibt das Völkerrecht und das UN-System – trotz aller Mängel – ein Schutzschild gegen die Willkür der Machtstärksten. Auch wenn defekt, geben diese Institutionen den schwächeren Nationen eine Stimme und manchmal Schutz vor extremem Machtmissbrauch.
Dennoch steht selbst diese minimale Ordnung unter Druck. Ihre Legitimität basierte einst auf der gegenseitigen Anerkennung durch die Mächte, die sie zerstören könnten. Heute schwindet der Einfluss der ehemaligen Hegemonie, und keine neuen Kräfte sind bereit, ihren Platz einzunehmen. Ohne Legitimität und Zwangsmittel ist es schwierig, die Idee einer gemeinsamen Weltordnung aufrechtzuerhalten.
Es ergibt sich daher ein Paradox: Wir bewegen uns möglicherweise auf eine Welt zu, in der die westliche Vorstellung einer Weltordnung keine Akzeptanz oder Relevanz mehr findet, und doch zeigt niemand großes Interesse daran, sie durch etwas Neues zu ersetzen. Stattdessen könnte sich allmählich ein Gleichgewicht herausbilden, eine Art neue Ordnung, die Wissenschaftler als “neue Weltordnung” bezeichnen könnten, obwohl sie in der Praxis wenig mit den früheren Modellen gemein haben wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kategorien “Weltordnung” und “Multipolarität” bald in die konzeptionelle Bedeutungslosigkeit abdriften könnten. Sie werden weiterhin diskutiert, in Reden erwähnt und in wissenschaftlichen Arbeiten zitiert, doch werden sie nicht länger die reale Welt beschreiben.
Wir betreten ein Zeitalter, das von einer neuen Verteilung der Macht geprägt ist, in dem Kontrollmechanismen weniger formalisiert sind und Legitimität nicht mehr von traditionellen Institutionen vererbt, sondern in Echtzeit ausgehandelt wird. In einer solchen Welt hängt Stabilität nicht von abstrakten Regeln oder formellen Bündnissen ab, sondern von den pragmatischen Kalkulationen handlungsfähiger Staaten – insbesondere jener, die über die Ressourcen und die Widerstandsfähigkeit verfügen, Ereignisse zu gestalten, statt von ihnen gestaltet zu werden.
Übersetzt aus dem Englischen.
Timofei Bordatschow ist Programmdirektor des Waldai-Clubs.
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