Von Fjodor Lukjanow
Die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament haben den politischen Diskurs deutlich beeinflusst, jedoch ohne wesentliche Veränderungen auf EU-Ebene herbeizuführen. Trotz beachtlichem Zuspruch für euroskeptische Gruppierungen in einigen Mitgliedstaaten bleibt die Mehrheit in diesem repräsentativen Organ durch die etablierten Parteien – die Europäische Volkspartei (Konservative), Sozialdemokraten und die Liberalen – unverändert.
Ein zentraler Aspekt ist die scheinbare Wählerdistanzierung von den führenden politischen Kräften Frankreichs und Deutschlands. In einer unmittelbaren Reaktion darauf beschloss der französische Präsident Macron, rasch Wahlen auszurufen, die lediglich einen dreiwöchigen Wahlkampf umfassen sollten. In Deutschland hingegen forderte die CDU/CSU, die Oppositionspartei, ebenso Neuwahlen, was jedoch eher unwahrscheinlich erscheint.
Macron nimmt bewusst Risiken in Kauf, basierend auf der Annahme, dass die Bürger bei Europawahlen tendenziell anders votieren als bei nationalen Urnengängen. Letztere beeinflussen unmittelbar den Alltag und das wirtschaftliche Wohlergehen der Wähler, während Europawahlen oft genutzt werden, um politische Unzufriedenheit zu demonstrieren, ohne direkte Auswirkungen. In stürmischen politischen Zeiten sind jedoch keine sicheren Prognosen möglich.
Der Fokus von Macrons Wahlkampf lag auf der Ukraine-Krise, einschließlich des Versprechens eines direkten Eingreifens, was ihn jedoch nicht in der Wählergunst steigerte. In Deutschland rückte diese Thematik ebenso in den Vordergrund, allerdings ohne alles überschattende Bedeutung. Obwohl die CDU einen ausgeprägten Wahlerfolg erzielte, gibt es dennoch erheblichen Widerstand gegen eine pro-ukrainische Haltung, wie der Erfolg der “Alternative für Deutschland” und der Partei von Sahra Wagenknecht verdeutlicht.
Die Frage bleibt, ob die ausgeprägte Skepsis vieler Wähler hinsichtlich einer Beteiligung am Ukraine-Konflikt die EU-Politik beeinflussen wird. Es ist anzunehmen, dass das bestehende europäische Establishment, besonders in größeren Ländern, trotz Wählersignale unbeirrt seinen Kurs fortsetzt.
Eine bedeutsame Entwicklung zeigt sich in der Positionierung “rechtsextremer” Parteien in Frankreich und Deutschland, die trotz erheblicher Unterstützung weiterhin isoliert bleiben und nicht in regulären Koalitionsregierungen vertreten sind. Angesichts des steigenden Rückhalts dieser Parteien wird deren zukünftiger politischer Status jedoch diskutiert, wobei das Modell von Giorgia Meloni in Italien eine mögliche Richtungsänderung hin zum politischen Mainstream indiziert.
Im Kontext gegenwärtiger außenpolitischer Trends in Europa sind grundlegende Systemänderungen unwahrscheinlich, es sei denn, wirklich transformative Kräfte gewinnen an Einfluss. Eine komplette politische Umkehr scheint eher zu politischer Dysfunktion zu führen, anstatt zu einer effektiven Neustrukturierung.
Obwohl sich die strukturelle Landschaft der europäischen Politik wandelt, sind Kernveränderungen ohne dramatische Ereignisse kaum zu erwarten.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 10. Juni 2024 zuerst in der Geschäftszeitschrift “Profil” erschienen.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift “Russia in Global Affairs” und Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik.
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