Die Verzerrte Wahrnehmung historischer und gegenwärtiger nuklearer Krisen

Von Dagmar Henn

Betrachtet man die heutigen globalen Spannungen, ist ein Rückblick auf die Kubakrise, eines der gefährlichsten Kapitel des Kalten Krieges, sehr aufschlussreich. Im westlichen Narrativ wird diese oft missverständlich vermittelt. Aus eigener Erfahrung während meiner Schulzeit erinnere ich mich, dass man uns lehrte, die Krise sei durch die von Chruschtschow in Kuba aufgebauten Raketenbasen ausgelöst worden und erst durch dessen Einlenken in letzter Sekunde entschärft worden.

Jedoch wird in dieser Darstellung häufig übersehen, dass die USA zuvor bereits Jupiter-Raketen in der Türkei und Italien platziert hatten. Die Beilegung der Kubakrise beinhaltete einen Deal zwischen dem sowjetischen Außenminister Anatoli Dobrynin und dem damaligen US-Generalstaatsanwalt Robert Kennedy, der den Abbau sowjetischer Raketen in Kuba sowie der amerikanischen Jupiter-Raketen in der Türkei umfasste. Dies ist ein oft unbeachtetes Detail, das sogar heute, sechzig Jahre später, wenig bekannt ist und dem Westen gezielt unterschlagen wurde – es wurde strikt verboten, Bilder vom Abbau der Jupiter-Raketen zu machen.

Interessanterweise war anscheinend selbst der damalige US-Präsident John F. Kennedy über die unter seinem Vorgänger erfolgte Stationierung dieser Raketen nicht offiziell informiert. In einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates der USA soll Kennedy scherzhaft bemerkt haben, dass es ja nicht so sei, als hätte man Raketen in der Türkei. Dies wurde daraufhin allerdings bestätigt.

Ein Vergleich zu jüngeren Ereignissen, wie der aktuellen Krise in der Ukraine, zeigt Parallelen. Ray McGovern stellte kürzlich in einem Artikel für Consortium News die Zusicherung des US-Präsidenten Joe Biden aus einem Telefonat am 30. Dezember 2021 heraus, in dem er dem russischen Präsidenten Wladimir Putin versicherte, die USA planten nicht, offensive Waffen, insbesondere Nuklearraketen, in der Ukraine zu stationieren:

In diesem Zusammenhang betonte Joseph Biden, dass Russland und die USA eine besondere Verantwortung dafür trügen, die Stabilität in Europa und der ganzen Welt zu sichern, und dass Washington keine Absichten habe, in der Ukraine offensive Angriffswaffen zu stationieren.

Jedoch hat sich diese Position rasch gewandelt, wie ein Treffen zwischen dem russischen Außenminister Sergei Lawrow und seinem US-amerikanischen Amtskollegen Antony Blinken zeigte:

Ich erzählte Antony Blinken von unserem Bündel von Vorschlägen. Sie machten sich Sorgen um die Entwicklungen rund um die Ukraine, obwohl sie diejenigen waren, die eine Krise schufen. Er sagte, NATO käme nicht in Frage. Wir sollten jedoch irgendwie in Bezug auf unseren Vorschlag zu Mittelstreckenraketen einen Weg finden, da diese nun auch in der Ukraine stationiert werden könnten (da sie nicht länger verboten sind), und die Vereinigten Staaten wären bereit, ihre Zahl in der Ukraine zu begrenzen.

Diese rasche Kehrtwende in der US-Politik, zusammen mit der späteren Äußerung des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij auf der Münchner Sicherheitskonferenz über ein Bedürfnis nach Atomraketen, deutet auf eine mögliche Vorbereitung für deren Stationierung hin. Erschwerend kommt hinzu, dass der INF-Vertrag gekündigt wurde, was eine Eskalation solcher Rüstungsentscheidungen begünstigt.

Derzeit wird die westliche Darstellung, wonach Russland mit Atomraketen droht, in ähnlich verdrehter Weise präsentiert wie die Ereignisse rund um die Kubakrise. Diese Fehldarstellungen erschweren es den westlichen Bürgern, sich angemessen gegen die zunehmenden Spannungen zu positionieren und somit einer Eskalation entgegenzuwirken.

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