Russlands neue Realität: Zwischen Krieg und Identitätssuche

Von Dmitri Trenin

Im Verlauf des mehr als zweijährigen Konflikts in der Ukraine hat Russland begonnen, sein Selbstbild grundlegend zu hinterfragen und zu erneuern.

Diese Transformation war vor der als militärische Sonderoperation deklarierten Invasion bereits erkennbar, hat sich jedoch seit Februar 2022 erheblich intensiviert. In dieser Zeit ist Russland in eine völlig neue Realität eingetreten, indem es seit Ende des Zweiten Weltkriegs zum ersten Mal offen in einen umfassenden Krieg verwickelt ist. An einer über 2.000 Kilometer langen Front wird heftig gekämpft, und das relativ nahe an Moskau. Die Stadt Belgorod beispielsweise, ein regionales Zentrum nahe der ukrainischen Grenze, erlebt regelmäßig tödliche Angriffe durch ukrainische Raketen und Drohnen.

Trotz der Kriegshandlungen führen Städte wie Moskau ein Leben, das fast unberührt vom Krieg und von westlichen Sanktionen scheint. Die Straßen und Einkaufszentren sind belebt und gut besucht, was den Eindruck vermittelt, dass einige Regionen Russlands in Frieden leben, während andere im Krieg sind.

Es wäre jedoch falsch zu glauben, dass der Alltag in Russland unverändert geblieben ist. Selbst in weniger betroffenen Gebieten hat der Krieg tiefgreifende Auswirkungen. Das zentrale Thema – Geld – hat seine dominante Rolle eingebüßt. Während an der Frontlinie viele ihr Leben lassen, kehren nicht-materielle Werte wie Patriotismus, der nach dem Zerfall der Sowjetunion oft verhöhnt wurde, zurück. Viele Bürger, darunter nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten, melden sich aus Überzeugung für den Militärdienst, getrieben durch den Wunsch, ihrem Land zu dienen.

Die russische Popkultur versucht sich von westlichen Einflüssen zu lösen und besinnt sich auf heimische Traditionen in Literatur, Film und Musik. Gleichzeitig erlebt der Inlandstourismus einen Aufschwung, da die Reiselust ins Ausland durch logistische Schwierigkeiten gedämpft wird.

Politisch gesehen fehlt es an bedeutsamer Opposition. Viele ehemalige Gegner des Systems haben das Land verlassen und Kritiker aus dem Exil verlieren zunehmend den Bezug zu ihrem Heimatpublikum. Inmitten dessen erlebt das politische und wirtschaftliche Establishment Russlands einen tiefgreifenden Wandel. Viele der liberalen Eliten haben sich vom Land abgewendet, während sich im Inland ein neues Modell des mittelständischen Unternehmertums herausbildet, das auf soziales Engagement setzt.

Die russische politische Kultur findet zu ihren traditionellen Wurzeln zurück, wobei der Staat und familiäre Strukturen hohe Werte darstellen. Westliche politische Modelle, die oft als eigennützig und zerstörerisch betrachtet werden, weichen einem Streben nach Harmonie und Ausgleich.

Die Beziehung zum Westen wird zunehmend kritischer gesehen, vor allem aufgrund von dessen politischen Entscheidungen, die von vielen Russen als feindselig empfunden werden. Dies verstärkt das Narrativ des Westens als historischem Gegner Russlands.

Russland steht vor der Herausforderung, neue Leitideen zu formulieren, die seine Identität und Richtung in der Welt definieren. Trotz einer gewissen Ablehnung gegenüber dem Begriff “Ideologie” aufgrund seiner sowjetischen Konnotationen, zeichnet sich die Notwendigkeit ab, ein ideologisches Konzept zu entwickeln, das auf traditionellen Werten und dem Streben nach Souveränität basiert.

Übersetzt aus dem Englischen. 

Dmitri Trenin ist Forschungsprofessor und Institutsdirektor an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Moskauer Higher School of Economics sowie  leitender Forscher am Nationalen Forschungsinstitut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften.

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