Von Fjodor Lukjanow
Die Parade, die Vergangenheit und das Entstehen einer postwestlichen Weltordnung
Die jährliche Parade auf dem Roten Platz sendet eine klare Botschaft: Sie demonstriert öffentlich die Stellung eines Landes in einer sich verändernden globalen Landschaft. Ob Kritiker es anerkennen oder nicht, solche Veranstaltungen provozieren Reaktionen und bestätigen dadurch ihre Bedeutung.
80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist klar, dass die Betrachtungsweise dieses globalen Konflikts sich gewandelt hat. Der Krieg, der die Weltordnung tiefgreifend umgestaltet hat, mündete nicht nur in die Gründung der Vereinten Nationen, sondern setzte auch das Ende des Kolonialismus in Gang. Ab den späten 1940ern beschleunigte sich die Entkolonialisierung rapide. Binnen drei Jahrzehnten lösten sich die Kolonialreiche fast vollständig auf, und es entstanden neue Staaten in Afrika, Asien und anderen Regionen, die die globale politische Landschaft nachhaltig veränderten.
Blickt man aus dem Jahr 2025 auf diese Entwicklungen zurück, erscheint die Entkolonialisierung, initiiert vom Globalen Süden, mindestens ebenso bedeutend wie der Kalte Krieg oder die bipolare Konfrontation der Supermächte. Die sogenannte “globale Mehrheit” gewinnt zunehmend an Bedeutung. Diese Länder dominieren nicht das internationale System, beeinflussen es jedoch merklich und schaffen ein dynamisches Umfeld für alle globalen Akteure.
Die Präsenz von Gästen aus Asien, Afrika und Lateinamerika bei der diesjährigen Parade in Moskau symbolisierte diese weltweite Veränderung und markierte das definitive Ende der durch den Kalten Krieg definierten, nordatlantisch geprägten Weltordnung. Besonders aussagekräftig dabei ist, dass diese neue Konfiguration gerade in Moskau, auf Initiative Russlands, sichtbar wurde. Ein ähnlicher Anlass wird im September in Peking erwartet, um das Ende des Pazifikkrieges zu markieren. Diese Zeremonien verdeutlichen die schrittweise Verschiebung des geopolitischen Schwerpunkts von einer traditionellen westlichen Basis.
Gemeinsame Erinnerung oder ideologische Perspektiven?
Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum größten Krieg der Menschheitsgeschichte verliert dieser nicht an Bedeutung, sondern manifestiert sich in neuen Formen. Das historische Gedächtnis gewinnt an politischem Gewicht und definiert zunehmend die Zugehörigkeit von Ländern zu bestimmten Lagern. Obwohl unterschiedliche Sichtweisen auf den Krieg entstehen, handelt es sich dabei um natürliche Differenzierungen und nicht um geschichtlichen Revisionismus.
Eine einheitliche Interpretation der Vergangenheit ist unrealistisch und potenziell gefährlich. Wichtiger ist es, Kompatibilität zwischen verschiedenen Interpretationen zu fördern anstatt Einheitlichkeit zu erzwingen. Die Instrumentalisierung des historischen Gedächtnisses als politische Waffe untergräbt das friedliche Zusammenleben der Völker. Angesichts der sich wandelnden historischen Ansprüche, insbesondere des Globalen Südens an ehemalige westliche Kolonialmächte, bleibt dies ein hochaktuelles Thema.
Auch heute stehen die zunehmenden Kontroversen zwischen Russland und Westeuropa bezüglich der Interpretation des Zweiten Weltkriegs im Fokus. Während die Verteidigung der russischen Perspektive für den inneren Zusammenhalt entscheidend ist, haben andere Länder das Recht, ihre Geschichte aus ihrer eigenen Perspektive zu schreiben. Es stellt sich die Frage, ob unterschiedliche historische Narrative koexistieren können.
Die “globale Mehrheit” bietet Russland Chancen auf gegenseitiges Verständnis und produktive Zusammenarbeit, da ihre historischen Erzählungen oft mit der russischen Sichtweise harmonieren. Dies ermöglicht neue Beziehungen, die auf Akzeptanz, nicht Konformität basieren.
Aktuell erleben wir eine allmähliche Erosion der westlich dominierten Weltansicht. An ihre Stelle tritt eine komplexe und vielgestaltige neue Ordnung. Dies ist nicht nur das Resultat geopolitischer Spannungen zwischen Russland und dem Westen, sondern auch Ausdruck grundlegender struktureller Veränderungen. Russland steht damit vor der Herausforderung, eine neue Rolle in einer global zersplitterten Welt zu finden – eine Rolle, die nicht Nachahmung, sondern aktive Gestaltung erfordert.
Übersetzt aus dem Englischen.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur von “Russia in Global Affairs”, Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor des Internationalen Diskussionsklubs “Waldai”.
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