Von Scott Ritter
Seit Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine, die mittlerweile in ihren 28. Monat geht, hat der Konflikt diverse Phasen durchlaufen. Bis auf die anfängliche Phase dominierte vorwiegend eine Strategie der Zermürbungskriegsführung. Viele westliche Militärbeobachter, die mit als „modern“ betrachteten Militärphilosophien des Manöverkriegs vertraut sind, empfinden den russischen Ansatz als primitiv und reminiscent an die grabenlastigen Kämpfe vergangener Zeiten, in denen Menschenleben für geringfügigen territorialen Gewinn geopfert wurden.
Doch eine eingehendere Analyse der letzten 27 Monate offenbart, dass die russische Kriegführung eine anspruchsvolle Anwendung der Militärkunst darstellt, die sämtliche Aspekte der Kriegsführung berücksichtigt – darunter Taktiken kleiner Einheiten, Waffenkompetenz, Aufklärung, Kommunikation, Logistik und nicht zuletzt die politische Dimension. Zudem wurde schnell klar, dass Russland zwar initial gegen die Ukraine antrat, aber bald mit der gebündelten militärischen Kapazität des gesamten Westens konfrontiert war. Die umfangreiche Unterstützung der NATO in Form von finanziellen Mitteln, Material, Logistik und Nachrichtendienstinformationen, kombiniert mit den Personalressourcen der Ukraine, zielte darauf ab, Russland strategisch zu ermüden und letztlich zu einer Niederlage zu zwingen.
Russland erkannte früh die Absichten seiner Gegner und bewies in seiner Führung Geduld und Weitsicht. Externe Militärbeobachter fehlinterpretierten Russlands Zögern, der Ukraine einen schnellen K.O.-Schlag zu versetzen, als Unfähigkeit, was die Realität stark verzerrte. Ursprünglich zielte Moskau auf einen kurzen Konflikt ab, der die Ukraine zu Verhandlungen zwingen sollte – ein Vorhaben, das durch die westlichen Partner der Ukraine, die auf ihren eigenen strategischen Sieg hofften, blockiert wurde. Russland stellte sich daraufhin auf einen längeren Zermürbungskrieg ein.
Militärisch war Russlands primäres Ziel stets die “Entmilitarisierung” der Ukraine. Nach ihrer teilweisen militärischen Rückziehung reorganisierte sich Russland, mobilisierte hunderttausende Soldaten und baute auf eine starke Verteidigung, während Ukraine mit intensiver NATO-Unterstützung ihre Streitkräfte regenerierte und zu Gegenoffensiven ansetzte.
Doch die anfänglichen Erfolge der Ukraine im Jahr 2022 erwiesen sich als trügerisch. Als die Ukraine Anfang Juni 2023 zu einer großangelegten Gegenoffensive ansetzte, mangelt es an ausreichenden Kräften. In den folgenden Monaten, bis in den Herbst, zeigte sich, dass die ukrainischen Truppen angesichts der optimierten russischen Verteidigung zunehmend unterlegen waren.
Ende 2023 fand die ukrainische Offensive ihren Haltepunkt und markierte militärisch das Ende für die Ukraine. Die NATO war materiell erschöpft und der Westen politisch zermürbt. Russland hingegen ging stärker aus dieser Konfrontation hervor und zeigt, dass Krieg weiterhin eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist.
Im Kontext weiterer Kämpfe, wie jener bei Charkow, verdeutlicht sich das russische Ziel weiterhin die Ukraine militärisch zu schwächen und jedwede Beschädigung des russischen Territoriums durch ukrainische Kräfte zu unterbinden. Bei diesen Auseinandersetzungen nutzt Russland die Verteilstellung zur weiteren Schwächung der ukrainischen Streitkräfte, wodurch Kiew gezwungen wird, seine letzten Reserven zu mobilisieren, deren Versetzung gleichzeitig durch russische Angriffe kompromittiert wird.
Aus dem Englischen übersetzt.
Scott Ritter ist ein ehemaliger US-Marineinfanterie-Aufklärungsoffizier und Autor. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor zur Implementierung des INF-Vertrags, war während des Zweiten Golfkriegs Teil des Stabes von General Norman Schwarzkopf und arbeitete von 1991 bis 1998 als leitender Waffeninspektor der UN im Irak. Aktuell schreibt er zu Themen der internationalen Sicherheit, militärischen Angelegenheiten, zu Russland, dem Nahen Osten sowie zu Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung. Ritter kann auf Telegram und X unter @RealScottRitter gefolgt werden.
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