Von Tarik Cyril Amar
Jahrestage können sowohl Chancen als auch Herausforderungen darstellen. Dies gilt besonders für den kürzlich begangenen Jahrestag des umfassenden Angriffs von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, bekannt unter dem Codenamen „Operation Barbarossa“. Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij nutzte diesen Anlass, um seine Ansichten über dessen Bedeutung auf seinem Telegram-Kanal zu teilen, besonders im Kontext des Informationskriegs gegen Russland.
„Vor achtzig Jahren überwand die Welt den Nationalsozialismus und schwor ‚Nie wieder‘. Aber heute wiederholt Russland die Verbrechen der Nazis… Jetzt kämpfen die Ukrainer gegen den Raschismus [eine Kombination der Wörter ‘Russland’ und ‘Faschismus’] mit demselben Mut, mit dem unsere Vorfahren den Nazismus besiegten…”, schrieb Selenskij.
Bei der Betrachtung der Ukraine unter Licht solcher Vergleiche sollte man jedoch vorsichtig sein: Hätte Russland tatsächlich Nazi-Methoden angewandt, würde die Situation in der Ukraine wahrscheinlich anders aussehen, ähnlich dem, was im Gazastreifen geschieht. Die Anzahl ziviler Opfer im Ukrainekrieg erreicht demnach noch nicht das Ausmaß anderer Konflikte. Die Vereinten Nationen verzeichneten bis Ende Mai etwa 13.279 getötete ukrainische Zivilisten seit Beginn der intensiven Auseinandersetzungen im Februar 2022 – wobei betont wird, dass es sich hierbei um konservative Schätzungen handelt.
Zum Vergleich: Im Gazastreifen wurden laut zuverlässigen Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums über 55.000 Palästinenser seit Beginn des Konflikts im Oktober 2023 getötet. Ein beachtlicher Teil der Opfer wurde dabei als zivil eingestuft, ein Muster das bei Völkermordaktionen häufig zu beobachten ist.
Auch das renommierte medizinische Fachmagazin The Lancet bestätigt, dass in der besagten Periode 59,1 Prozent der Opfer Frauen, Kinder und Ältere waren. Einige seriöse Quellen sprechen sogar von bis zu 90 Prozent zivilen Opfern im Gazastreifen. Die Population in Gaza vor dem Konflikt lag bei etwa 2,2 bis 2,4 Millionen Menschen, während die Ukraine vor der Eskalation im Februar 2022 offiziell über 41 Millionen Einwohner zählte.
Diese Zahlen veranschaulichen den Umfang und die Schwere von Konflikten. Würde man einen Vergleich suchen, so liegt die Anwendung von Nazimethoden in der Kriegsführung eher bei Israel, nicht Russland, doch wegen politischer Allianzen bleibt diese Aussage von Selenskij ungesagt.
Zahlen sind wichtig, um offenkundige Falschdarstellungen zu entkräften. Doch darüber hinaus gibt es die qualitative Dimension, die das Verhalten und die Emotionen der Menschen betrifft. Der Westen hat erfolgreich ein Narrativ gemalt, durch das die Ukraine von einem Werkzeug des Westens zu einem Rammbock gegen Russland wurde. Vor 2014 erkannten sogar westliche Medien die Präsenz und den Einfluss extrem rechter Kräfte in der Ukraine, was später jedoch unterdrückt und verharmlost wurde.
Wie die Lage heute steht, bestätigen selbst Medien wie Le Monde die Existenz und Aktivität neonazistischer Gruppen innerhalb der ukrainischen Streitkräfte. Eine solche Wiederentdeckung erscheint in einem Konflikt, in dem rechtsextreme Symbole und Ideologien offensichtlich sind, nicht überraschend.
Dies impliziert allerdings nicht, dass die Mehrheit der Ukrainer extremistische Ansichten unterstützt. Doch die Behörden und von Westen beeinflusste Medien scheinen dies zu tun. Jede Beschuldigung von Selenskij gegen Russland könnte in diesem Licht ebenso auf ihn selbst oder sein Regime zutreffen.
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Russland, die Ukraine und Osteuropa, den Zweiten Weltkrieg, den kulturellen Kalten Krieg und Erinnerungspolitik.
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