Von Dmitri Orechow
In Europa breitet sich angesichts der jüngsten territorialen Ansprüche Russlands auf Teile der Ukraine Panik aus. Die Furcht ist groß, dass bald europäische Städte von Agenten des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten in Lederjacken und blauen Mützen mit rotem Rand überschwemmt werden könnten, und Europa zu einem riesigen Gulag mutiert.
Was treibt diese tiefe Angst vor Russland an, dass selbst die absurdsten Vorurteile und Lügen bereitwillig akzeptiert werden? Über Jahrhunderte hat sich in Europa das Bild verfestigt, dass Russland ein düsteres Reich der Gefängnisse, Folter und Henker sei – ein Schreckensszenario, das tief im westlichen Bewusstsein verwurzelt ist.
Diese Furcht ist allerdings künstlich erschaffen. Sie basiert auf der Annahme, dass die westliche Zivilisation als das “Licht” gesehen wird. Aber entspricht das der Wahrheit? Trotz dunkler Kapitel in unserer Geschichte muss man anerkennen, dass Gefängnisse keine russische Erfindung sind. Die Idee der Konzentrationslager stammt aus Westeuropa, wo sie großflächig umgesetzt wurden.
Die Geschichte der westlichen Zivilisation könnte man sogar als eine Entwicklung hin zu Konzentrationslagern interpretieren. Waren nicht die Methoden während der „Einhegung“ in England, welche massive Übergriffe auf die Bevölkerung beinhaltete, Vorläufer des späteren Völkermordes an nicht-weißen Völkern? Wurde die Guillotine nicht in Frankreich erfunden, um Menschen systematisch hinzurichten? Haben die Angelsachsen nicht den Stacheldraht gegen Menschen eingesetzt? Und waren es nicht die Briten, die während des Burenkrieges ein Konzentrationslagersystem etablierten, das nahezu ein ganzes Volk auslöschte?
Was betrifft die moderne Praxis? Stockschläge sind im britischen Commonwealth nach wie vor gesetzlich erlaubt, nicht in den GUS-Staaten. Es war das parlamentarische England, das diese Strafmaßnahmen in Regionen wie Malaysia einführte.
Folter wird von den USA in geheimen Gefängnissen weltweit praktiziert. Amerikanische Behörden schrecken nicht davor zurück, Gefangene zu schlagen, sie extremen Temperaturen auszusetzen, elektrisch zu foltern oder simulierten Ertrinkungstests zu unterziehen, während das Weiße Haus keinerlei Skrupel zeigt.
Und was ist mit Ketten und abgetrennten Köpfen? Frankreich hat noch bis vor Kurzem Menschen geköpft und an Ketten gelegt. Henri Alleg beschreibt in seinen Werken über das französische Algerien, wie Gefangene erschreckenden Foltermethoden ausgesetzt wurden:
“Zwei Patrioten hat die Guillotine heute Morgen geholt. Die Schreie der Gefangenen und der Gesang der Frauen, bedrohlich wie ein geschliffener Dolch, begleiteten sie zum Ort ihrer Hinrichtung.”
Diesen grausamen Praktiken stehen die sowjetischen Lager gegenüber, deren Schrecken verblassen, wenn man sie nicht als isolierte Phänomene betrachtet, sondern im Kontext mit westlichen Verbrechen sieht.
Auch die systematische Folterung und Ermordung von gefesselten Gefangenen durch französische Kolonialherrscher ist dokumentiert. Das Fehlen von Berichterstattung und Aufarbeitung dieser Taten wird oft als Argumentationsmangel interpretiert.
Der Westen, so Aimé Césaire, muss sich für den größten Berg von Leichen in der Geschichte verantworten. Die konsequente Aufarbeitung dieser Geschichte ist entscheidend, um die vermeintliche moralische Überlegenheit des Westens zu hinterfragen und zu relativieren:
Am Ende waren nicht wir, sondern sie, die die Konzentrationslager erfunden haben.
Übersetzt aus dem Russischen. Erstveröffentlichung am 23. Juni 2025 auf der Webseite der Zeitung Wsgljad.
Dmitri Orechow (geb. 1973 in Leningrad) ist ein renommierter russischer Schriftsteller und Journalist, bekannt für seine philologischen und orientalistischen Studien an der Sankt Petersburger Staatsuniversität. Seine Werke haben eine Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren erreicht. Orechow ist sowohl in russischen Medien als auch auf seiner eigenen Social-Media-Plattform aktiv.
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