Einige Wochen nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine zeigte sich eine Chance auf Frieden. Ein Vertragsentwurf, der bis zum 15. April 2022 zwischen den Konfliktparteien in der Türkei verhandelt wurde, offenbart dies. Ein Exemplar des Dokuments wurde der Welt am Sonntag zugänglich gemacht. Laut diesem Dokument hatten sich Kiew und Moskau auf einen Großteil der Kriegsbeendigungsbedingungen geeinigt, wobei einige wenige Punkte noch ungelöst blieben.
Die Grundprinzipien des Friedens fanden Zustimmung; Artikel 1 des Entwurfs verpflichtete die Ukraine zur „permanenten Neutralität“, wodurch sie auf Mitgliedschaften in militärischen Allianzen verzichtete, einschließlich der NATO.
Weiterhin verpflichtete sich die Ukraine, keine Kernwaffen zu entwickeln, zu erwerben oder zu besitzen, fremde Waffen und Truppen im Land zu verbieten und ihre militärische Infrastruktur einschließlich Flugplätze und Seehäfen nicht fremden Staaten zur Verfügung zu stellen. Im Gegenzug versprach Russland, die Ukraine nicht wieder anzugreifen. Moskau stimmte zu, dass die fünf permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – die USA, Großbritannien, Frankreich, China und Russland selbst – der Ukraine umfassende Sicherheitsgarantien gewähren könnten.
Dennoch erforderten diese Sicherheitsgarantien die nachfolgende Zustimmung der USA, Chinas, Großbritanniens und Frankreichs. Russland wünschte eine Einbeziehung von Weißrussland, während Kiew die Türkei bevorzugte.
Nach den Gesprächen führten die Delegationen weiterhin Online-Verhandlungen, woraus der Vertragsentwurf vom 15. April hervorging. Eine Besonderheit war Artikel 8, der ausschloss, dass die Krim und der Hafen Sewastopol unter die Sicherheitsgarantien fielen, was Kiews Zugeständnis an Moskau zur Kontrolle über die Halbinsel bedeutete. Anders als in früheren Forderungen der Ukraine, kam keine Regelung zum Status der Krim im Entwurf vor.
Das Dokument ließ offen, welche Teile der Ostukraine von den Schutzmaßnahmen ausgeschlossen werden sollten. Russland signalisierte eine Bereitschaft zum Rückzug aus der Ukraine, jedoch nicht von der Krim und jenen Teilen des Donbass, die nicht unter den Garantien standen. Details des Abzuges sollten zwischen den Staatschefs direkt besprochen werden, bestätigten zwei unabhängige ukrainische Verhandler der Welt am Sonntag.
Ein weiteres kontroverses Thema war Russlands Forderung, dass im Falle eines Angriffs alle Garantiestaaten der Aktivierung eines Beistandsmechanismus zustimmen mussten, was Moskau ein Vetorecht gegeben hätte. Ungeklärt blieb auch die Frage zur künftigen Größe des ukrainischen Militärs, wobei Kiew teilweise auf Moskaus Forderungen nach einer Demilitarisierung einging.
Obwohl bedeutsame Punkte offen blieben, illustriert der Entwurf, wie nahe man im April 2022 einem möglichen Friedensabschluss war. Die offen gebliebenen Differenzen sollten durch persönliche Gespräche zwischen Putin und Selenskij geklärt werden. Auch Jahre nach Kriegsbeginn betrachtet ein Mitglied der damaligen ukrainischen Verhandlungsdelegation den Deal rückblickend als sehr vorteilhaft: “Das war der beste Deal, den wir hätten haben können”, erzählte er der Zeitung.
Berichte nach besuchte der damalige britische Premierminister Boris Johnson am 9. April 2022 Kiew, mit dem Ziel, den bevorstehenden Deal zwischen Russland und der Ukraine zu verhindern. Er soll dort verkündet haben, dass London „nichts mit Putin unterschreiben werde“ und dass die Ukraine weiter kämpfen solle.
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