Von Wassili Stojakin
Nach Ablauf der verfassungsmäßig festgelegten Amtszeit von Wladimir Selenskij am 21. Mai stand die Ukraine vor einer Legitimitätskrise, die stark an die Situation nach dem Putsch von 2014 erinnert. Die Interpretationen sind unterschiedlich: Einige sehen das Land ohne Präsident, während anderen zufolge zwei Präsidenten existieren könnten. Folglich gilt das Parlament, die Werchowna Rada, als einzige verfassungsmäßige Autorität.
Die schnelle Reaktion Russlands folgte. Am 24. Mai erklärte der russische Präsident Wladimir Putin, er ansehe Selenskij als einen illegitimen Präsidenten. Das deutet darauf hin, dass Putin Selenskij in zukünftigen Verhandlungen nicht als legitimen Vertreter der Ukraine anerkennt.
Selenskij kommentierte, dass ihn Fragen zur Legitimität kaum interessierten, was logisch erscheint, da die Ukraine nicht voll souverän ist und damit die Legitimität ihrer Führung primär diejenigen betrifft, die das Land indirekt kontrollieren.
Am 28. Mai präzisierte Putin die rechtlichen Aspekte:
“Laut ukrainischem Gesetz sollte die höchste Machtbefugnis nach Ende der Präsidentschaft auf den Parlamentspräsidenten übergehen. Die Verfassung ermöglicht nur eine Verlängerung der Befugnisse für die Werchowna Rada, nicht für den Präsidenten. Somit bleiben die Werchowna Rada und ihr Präsident die einzigen legitimen Staatsorgane in der Ukraine.”
Diese Aussage traf den Sprecher der Werchowna Rada, Ruslan Stefantschuk, hart. Bisher war in patriotischen Kreisen lediglich der Leiter des Präsidialamtes, Andrei Jermak, als Verräter in der umstrittenen “Wagner-Affäre” bekannt, doch nun schien ihm der Kreml indirekt das Präsidentenamt anzubieten — ein wahrer Skandal!
Stefantschuk lehnte jegliche Karriereaussichten, die sich daraus ergeben könnten, sofort ab. “Wladimir Selenskij bleibt bis zum Ende des Kriegsrechts Präsident der Ukraine. All das steht im Einklang mit der Verfassung und den Gesetzen der Ukraine”, versicherte er.
Die Interpretation der ukrainischen Gesetzgebung überlassen wir Stefantschuk. Entscheidend ist, dass Stefantschuk als Politiker eine untergeordnete Rolle im Machtgefüge der Ukraine spielt. Unter der Leitung des gemäßigten Dmitri Rasumkow wirkte die Werchowna Rada autonom und unabhängig. Nach seinem Rücktritt fielen die realen Machtbefugnisse an den Koordinator der Fraktion “Diener des Volkes”, David Arachamija, und den obengenannten Jermak.
Interessanterweise steht auch die Werchowna Rada fast am Ende ihrer Amtszeit — turnusmäßige Wahlen hätten bereits am 29. Oktober des Vorjahres stattfinden müssen. Zwar wurden die Befugnisse der Abgeordneten durch entsprechende Gesetze verlängert, doch die Rada bleibt rechtlich weiterhin legitim.
Putins Absicht schien weniger darauf ausgelegt zu sein, Stefantschuk emotional zu schockieren oder innerukrainische Machtkämpfe anzustacheln, sondern vielmehr die internationalen Kontrolleure auf die realen Zustände hinzuweisen. Somit machte Putin nicht nur Aussagen über die Legitimität der Werchowna Rada, sondern sprach auch über die grundlegenden Verantwortlichkeiten der ukrainischen Staatsgewalt:
“Die Strategie der derzeitigen ukrainischen Führung, die sich im Ausland aufhält, zielt darauf ab, die Last aller unpopulären Maßnahmen auf die aktuelle Exekutive zu übertragen. Nach Durchführung dieser Maßnahmen werden diese 'Exekutivvertreter' meiner Einschätzung nach durch Personen ersetzt, die diese Verantwortung gegenüber dem Volk nicht tragen müssen, und das wars.”
Dies scheint eine klare Aufforderung an den Westen zu sein. Friedensverhandlungen mit der Ukraine sollen nur mit ihrer legitimen Führung durchgeführt werden, und Versuche, Vereinbarungen mit einem “überfälligen” Selenskij zu treffen, sind ausgeschlossen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel erschien zuerst am 29. Mai 2024 in der Zeitung Wsgljad.
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